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Broken Computer

Wie der BITKOM mit wissenschaftlichen Umfragen Schulpolitik macht

Wie beeinflussen Konzerne und Unternehmen mithilfe wissenschaftlicher Forschung Entscheidungen im Bereich digitaler Bildung? Am 10. August hat der BITKOM eine Studie veröffentlicht, die meiner Meinung nach einen Trend sehr deutlich aufzeigt: Der Branchenverband der deutschen Informations- und Telekommunikationsbranche versucht mit eigenen Studien digitale Technik zu verkaufen. Es geht um tendenziöse Fragestellungen und Antwortmöglichkeiten und verdrehte Überschriften – dahinter steht die Beobachtung, wie mit scheinbar neutraler Wissenschaft (hier “BITKOM Research”) auf Politik Einfluss genommen wird und journalistische Medien ziemlich unkritisch diese Ergebnisse verbreiten.

Die Strategie ist nicht neu. 2020 berichtete Philip Banse für den Deutschlandfunk von einer BITKOM-Studie: “Schüler wollen mehr Digitalisierung”. Mit einer ähnlichen Studie des Branchenverbands BITKOM bringen sich jetzt Anfang August 2023 die (Ed-)Tech-Unternehmen erneut mit ihren politischen Forderungen nach mehr digitalen Geräten an Schulen und dem Pflichtfach Informatik in Stellung. Die befragten jungen Menschen wollen rund um den wankenden Digitalpakt 2.0 angeblich “digitaler lernen”. Die Rheinische Post titelt “Das nervt Schüler mehr als der Lehrermangel“, im Deutschlandfunk werden die Umfrage-Ergebnisse wiedergegeben und der BITKOM-Präsident Wintergerst kommt mit seinen Forderungen völlig ohne Einordnung zu Wort. Die journalistischen Medien verbreiten die Kernaussagen der Studie absolut unkritisch, obwohl die Interessenlage des Auftraggebers BITKOM sehr klar sein dürfte, nämlich mehr digitale Geräte zu verkaufen. Die repräsentative Umfrage erweckt den Anschein, als ob sie die Meinungen der jungen Menschen über die digitale Bildung widerspiegeln würde. Und damit stellt sich mir die Frage, warum so wenig journalistische Einordnung stattfindet. Schauen wir uns die Slides und die Überschriften zu der aktuellen Studie mal kritisch an.

Gefragt wurde: “Welche Geräte werden hin und wieder im Unterricht an deiner Schule eingesetzt?”

Bild: Bitkom Research

Daraus macht der BITKOM die Überschrift: “Smart- und Whiteboards werden zum Standard”. Was für ein Standard? Was hier mit dem normierenden Begriff “Standard” überschrieben wird, erscheint bei genauerem Hinsehen deutlich uneindeutiger. Die Umfrage zeigt kein so eindeutiges Bild, weil Tablet und Beamer nicht weit abgeschlagen sind, wie die Überschrift vermuten ließe. “Hin und wieder” lässt zudem überhaupt keine Rückschlüsse zu, ob die Smartboards lediglich für 2 Minuten zum Notieren der Hausaufgaben genutzt werden oder neue Unterrichtsformen ermöglichen. Dass die Branche an Smart- und Whiteboards besonders viel verdient und Politiker:innen sich besonders gerne davor fotografieren lassen, ist längst kein Geheimnis mehr und kann bei Jöran nachgelesen werden. Das ist eine mögliche Erklärung für diese Überschrift.

Das Bild der “Großbaustellen” zeichnet eine andere Folie der Studie. Fast 90 Prozent der Befragten kritisieren demnach schlechtes oder kein WLAN als dringlichstes Problem an der Schule.

Bild: Bitkom Research

Doch die abgebildete Vorauswahl der Items ist sehr tendenziös und hält einer kritischen, neutralen Prüfung sicherlich nicht stand. Problematisch ist: Die jungen Menschen werden nicht offen gefragt, was die dringlichsten Probleme sind. Es könnten ja auch noch ganz andere Dinge wichtig für sie sein. Die Items geben die Richtung hingegen schon vor: Viel Technik sowie quantifizierbare Daten wie Lehrkräftemangel, Unterrichtsausfall, überfüllte Klassen stehen zur Wahl. Soziale Fragen oder kritische Gedanken zum Lernen oder Lernformen spielen nur eine kleine Rolle. Meiner Ansicht nach gibt diese Item-Auswahl vielmehr Auskunft darüber, welches technikfokussierte und organisatorische Verständnis von Schule der BITKOM als Fragesteller hat. Auf diese Weise findet man jedoch nicht heraus, was sich die jungen Menschen wirklich an Veränderungen und Verbesserungen in Schulen wünschen. Dass nun das WLAN so deutlich an erster Stelle herauskommt, geschenkt.

Nächste Überschrift: “Viele Schulen haben Nachholbedarf im Digitalen.”

Bild: Bitkom Research

“Nachholbedarf” und “veraltet” sind bewusste Framings um über den internationalen Vergleich Handlungsdruck zu erzeugen. Bei digitalen Medien werden Schulen immer technischen Innovationen hinterher sein, sie sind nunmal nicht die erste Zielgruppe. Junge Menschen werden sich also auch in Zukunft stets Verbesserungen der technischen Ausstattung wünschen, weil viele Teile ihrer Alltagswelt von digitalen Geräten durchdrungen werden. Spannend wäre aber doch zu fragen, woher dieser Wunsch kommt und ob Schulen diese Aufholjagd zukünftig mitspielen sollen. Denn wenn an der einen Stelle einige digitale Geräte erneuert werden, fehlen direkt schon die nächsten und schreien nach einem Update. Die Werbung und der digitale Kapitalismus gaukeln allen Menschen vor, dass wir immer neuere Technik kaufen müssen und dass Bildung digital besser funktioniere als analog. Mündige junge Menschen sollten von der Schule aber in die Lage gesetzt werden, solche Konsum-Erzählungen in Frage zu stellen. Doch VR/AR-Brillen und KI als neue Trends können für einige gar nicht schnell genug in den Unterricht gelangen. Dass ein Branchenverband genau am Verkauf immer neuerer Technik Interesse hat, liegt auf der Hand. Eine solche kritische Einordnung findet aber nirgends statt.

Bild: Bitkom Research

Für den BITKOM erfreulich: Nur 13% geben an, dass sie nicht mit digitalen Bildungsmedien lernen wollen, und 3/4 schätzen sich selbst so ein, dass sie mit digitalen Bildungsmedien motivierter seien. Ob sie wirklich motivierter sind oder nur glauben, motivierter zu sein, kann in so einer Umfrage überhaupt nicht erhoben werden. Es bleibt auch die Frage völlig offen, wie dieser Unterricht aussieht, in dem allein der Einsatz digitaler Bildungsmedien für mehr Motivation sorgt. Interessant aber unerwähnt bleibt, dass 44% anscheinend meinten, dass digitale Bildungsmedien ihnen nicht helfen, um bessere Schulnoten zu schreiben. Erneut wäre hier doch die spannende Frage, warum Schüler:innen es “digital mögen” und welche gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen sich darin wiederfinden. Möglicherweise mögen Schüler:innen die digitalen Medien im Unterricht, weil das vorgegebene Unterrichtssetting mit digitalen Medien erträglicher oder weniger langweilig ist. Was ist das Bildungsverständnis dahinter?

Schließlich kommt die für den BITKOM logische Message: “Informatik als Pflichtfach in den Klassen 5 bis 10 halte ich für eine gute Idee,” sagen 66%.

Bild: Bitkom Research

Es wurde schon viel über das Für und Wider weiterer Pflichtfächer geschrieben. Neue Pflichtfächer zu fordern ist einfach, erzeugt Aufmerksamkeit und verkennt doch, dass es eigentlich weniger Fächer bräuchte. Die Einteilung in Fächergrenzen ist in Zukunft zumindest zu überdenken. Dass Schüler*innen ein neues digitales Fach für eine gute Idee halten ist wenig überraschend, ihre Eltern stimmen ja in den gleichen Chor mit ein: “Vier von fünf Eltern wollen Informatik als Pflichtfach” wurde in einer anderen Studie von BITKOM herausgefunden. Die Ziele, die BITKOM verfolgt, werden ganz unverblümt geäußert: früh an Informatik heranführen = mehr Karrieren in der IT:

„Schülerinnen und Schüler sollten früh an die Informatik herangeführt werden. Die Schulen müssen sie auf ihrem Weg in die digitale Welt bestmöglich mit dem nötigen Wissen und Fähigkeiten ausstatten. Das wird auch dabei helfen, mehr jungen Menschen eine Karriere in der IT zu ermöglichen“, sagt Bitkom-Präsident Achim Berg.

Quelle: BITKOM 2023

Ob Informatik bestmöglich auf eine digitale Welt vorbereitet, muss hinterfragt werden. Ob Programmieren lernen in Zukunft eine wichtige Kompetenz sein wird, muss in Zeiten von ChatGPT ebenfalls in Frage gestellt werden. Auf jeden Fall muss das allgemeinbildende Schulsystem sich davor hüten, Karrieremöglichkeiten in einer Branche mit einem Fach zu stärken.

Kein demokratischer Prozess

Der BITKOM kommt jedenfalls zu dem Schluss: “Schüler wollen digitaler lernen – und können es oft nicht” und fordert im gleichen Atemzug den Digitalpakt 2.0, der der Branche viele Aufträge sichern würde. Der vermeintliche Wunsch der Schüler:innen nach mehr Digitalem in der Schule wird auf diese Weise zum Motor einer ökonomischen Entscheidung gemacht, deren Tragweite die jungen Menschen selbst aber auch Lehrkräfte und die Wissenschaft überhaupt noch nicht abschätzen können. Ein demokratischer Prozess, bei dem lokal ausgehandelt werden würde, welche und wie viel Digitalisierung an einer Schule von allen Akteueren gewünscht wird und zugleich pädagogisch Sinn macht, müsste ganz anders aussehen, sagt Neil Selwyn in einem sehr lesenswerten Artikel. Dass die Formulierung “können es oft nicht” ein unfreiwillige Doppeldeutigkeit inne hat, entzaubert womöglich die ganze Thematik: Viele Dinge können nicht “digital gelernt” werden. Das führt zu den wirklich wichtigen Fragen: Wie muss Lernen in der Schule gestaltet werden? Welche Lernkultur findet in Schulen statt und soll stattfinden? Digitalisierung oder Digitalität? Wie passen Digitalisierung und Nachhaltigkeit zusammen? All das wird zugunsten von Interessenpolitik ausgeblendet.

Zu diesem Schluss kommt auch der “2023 Global Education Monitoring Report” der UNESCO (Danke Bildungsradar für den Hinweis). Darin heißt es unter anderem zur Wirksamkeit digitaler Technologie in der Schule:

“A lot of the evidence comes from those trying to sell it.”
“Finally, it can have detrimental impact if inappropriate or excessive.”

Bild: 2023 Global Education Monitoring Report

BITKOMs Greenwashing

Zum Schluss möchte ich noch über den Tellerrand Schule hinausschauen und die letzte meiner Fragen aufgreifen. Dort zeigt sich, dass der BITKOM auch im Feld Nachhaltigkeit die eigene Sichtweise promotet. Und das hat wiederum Auswirkungen auf Schule, weil die digitale 1:1-Ausstattung auch als ein grünes und nachhaltiges Projekt verkauft wird. Der BITKOM sieht zum Beispiel “Potenziale von Blockchain für die Nachhaltigkeit” und behauptet, “Digitalisierung und Nachhaltigkeit gehören untrennbar zusammen.” Das ist Greenwashing, das uns in dem Glauben halten soll, digitales grünes Wirtschaftswachstum sei möglich. Für letzteres bräuchte es aber eine Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch – eine Digitalisierung mit einem sinkenden Ressourcenverbrauch ist aber gerade nicht das Ziel, für das der BITKOM eintritt. Die Materialität der Digitalisierung ist und bleibt nämlich unbestreitbar. Hinzu kommt, dass der wachsende digitale Konsum jegliche digitalen Effizienz-Einsparung zunichte macht. Das überwachte SmartHome lässt grüßen und die Trends VR/AR und Künstliche Intelligenz – beide sehr problematisch aus Sicht des Klimaschutzes – werden vom BITKOM mit Leitfäden beworben. Der BUND kam schon vor Jahren zu einem ganz anderen Schluss:

Nicht nur, dass es keinerlei empirische Beweise dafür gibt, dass jemals eine Entkopplung des Wirtschaftswachstums vom Ressourcenverbrauch stattgefunden hätte, die dem Ausmaß der aktuellen Umweltzerstörung gewachsen gewesen wäre; es ist außerdem auch unwahrscheinlich, dass eine solche Entkopplung in Zukunft je eintreten wird.

Quelle: BUND 2019
Bild: BUND 2019

Der oben genannte UNESCO-Report sagt dazu:

“Technology is often bought to plug a gap, with no view to the long-term costs… […] One estimate of the CO2 emissions that could be saved by extending the lifespan of all laptops in the European Union by a year found it would be equivalent to taking almost 1 million cars off the road.”

Fazit

Das Beispiel der BITKOM-Studie zeigt exemplarisch: Es ist im Jahr 2023 viel zu einfach, Digitalisierung als Fortschritt zu verkaufen. Die vom BITKOM vertretene Zielsetzung ist mehr als klar: der erste Punkt der Checkliste für gute digitale Bildung vom BITKOM ist die 1:1-Ausstattung mit einem mobilen Endgerät. Und Politiker:innen stimmen – aktuell die CSU in Bayern – in diese Forderung ein: “Bis 2028 sollen alle Schülerinnen und Schüler nach Angaben von CSU-Generalsekretär Martin Huber in Bayern ein Tablet für den Unterricht gestellt bekommen.” Eine erfolgreiche politische Lobbyarbeit, bei der kritische Fragen des Greenwashings oder das Ziel des Digital Degrowth überhaupt keinen Raum finden. Insbesondere die Frage der Nachhaltigkeit solcher 1:1-Ausstattungen wird erfolgreich ausgeblendet. Vor Jahren hatte ich schonmal gefragt “Kann man ökologische und soziale Nachhaltigkeit mit iPads unterrichten?“, 2018 kam vom Umweltbundesamt eine klare Rückmeldung in Sachen “Umweltfreundliche Beschaffung digitaler Endgeräte für Schulen“. Stattdessen wird – “Deutschland darf nicht abgehängt werden!” – ein enormer Handlungsdruck erzeugt, Schulen schneller digital zu machen. Das Netzwerk von BITKOM-SmartSchools zeige, wie digitale Bildung gelingen könne und wie alternativlos sie angeblich seien. Untermauert wird das mit zumindest fragwürdigen wirtschaftsnahen Studien. Das gilt es zu hinterfragen. Von journalistischen Medien vermisse ich dazu kritische Berichte, die einerseits solche Formen des technikgläubigen Fortschritts kritisch einordnen und andererseits keine technikfeindlichen Schlagzeilen von sich geben.


Photo by Ashkan Forouzani on Unsplash

Hinweis: Auf meine Anfrage beim BITKOM, die Studie im Original nachlesen zu können, habe ich bis heute keine Antwort erhalten. Haben die journalistischen Medien sie im Original gelesen?