Eine konsequente Individualisierung im Unterricht ist eine Illusion – besonders am Gymnasium. Drei Hinweise, warum ich das so sehe:
- Ein befreundeter Kollege vergibt dieses Jahr für über 400 junge Menschen Zeugnisnoten.
- Eine Lehrkraft sitzt seit Wochen an Korrekturen von Klassenarbeiten, um die Bewertungen möglichst gerecht zu machen und die individuellen Rückmeldungen möglichst hilfreich zu formulieren.
- Eine Klasse startet eine Unterschriftenaktion, weil eine Lehrkraft nicht genug individuelle Rückmeldungen zu den Hausaufgaben gebe, sondern oft nur den Umfang der Hausaufgaben kontrolliere.
Individualisierung ist nicht leistbar
Wir müssen uns meiner Meinung nach eingestehen, dass echte Individualisierung im Unterricht unter den heutigen Rahmenbedingungen an vielen Schulen kaum nicht leistbar ist. Denn Thorsten Bohl definiert individualisierten Unterricht so:
Individualisierung nimmt die zuvor erfassten Lernvoraussetzungen und/oder Interessen einzelner Schülerinnen und Schüler als Ausgangspunkt und stellt daraufhin passende individuelle Lernangebote zur Verfügung.
Thorsten Bohl
Dass das sehr, sehr aufwändig und anspruchsvoll in der Vor- und Nachbereitung sowie in der Durchführung ist, sollte klar sein. An Förderschulen sieht man, welchen Personalschlüssel es dafür eigentlich bräuchte. Dennoch sind Individualisierung und Differenzierung politisch an allen Schulen vorgesehen, egal wie groß die heterogenen Klassen sind. Wie soll das für 400 junge Menschen gehen? Es stehen schlicht nicht genug Ressourcen zur Verfügung und die Rahmenbedingungen sind ungenügend.
Das Brisante ist: Der Lehrkräftemangel wird die Sache nicht besser machen. Im Gegenteil: Einzelgespräche, in denen Dinge wie Coaching, Austausch über Interessen oder belastende Faktoren in Ruhe Platz haben, finden zumindest am Gymnsium wie ich es kenne jetzt schon kaum statt. Individuelle Lernangebote kommen ebenfalls selten vor. Woran das liegt? Die Klassengrößen, viele 1-2-stündige Fächer, volle Lehrpläne, die etablierte Prüfungskultur und fehlende Coaching-Strukturen sind sicherlich wichtige Gründe dafür, die alle in Zukunft durch das schwindende Personal verschärft werden.
Die alternativlose KI-Individualisierung: personalisierte Lernpfade von intelligenten Tutorensysteme
Lehrkräftemangel? Sehr heterogene Klassen? Viele technikbegeisterte Lehrkräfte, Schulleitungen, Forschende an Hochschulen und KI-Unternehmen sehen schon eine Lösung am Horizont: 🌄Künstliche Intelligenz. Die KI-Akteure haben derzeit ein sehr großes Interesse daran, ihre Tools für individuelle Lernangebote an Schulen zu etablieren und in Ansätzen probieren das heute schon viele aus. In der Nachhilfe-Branche erhoffen sich Player wie GoStudent oder Simpleclub große Marktgewinne durch KI-basierte Learning Analytics, die „personalisierte Lernpfade“ und „interaktive personalisierte Erklärungen“ erstellen. Auf den Seiten von Bettermarks heißt es mit Bezug zur KMK: „Eine Metastudie der TU München im Auftrag der Kultusministerkonferenz kommt zu dem Schluss, dass intelligente Tutorensysteme die größte positive Wirkung auf die Lernergebnisse in MINT-Fächern haben.“ Die immer zur Verfügung stehende KI-Maschine im Tablet schafft es also ohne zu ermüden allen eine individuelle Rückmeldung zu ihren Aufsätzen zu geben oder neue passende Aufgaben zu erstellen. Es ist nur eine Frage der Zeit, dann wird die KI Klassenarbeiten gerechter benoten und Zeugnisnoten vergeben.
Im Sog der digitalen Transformation wollen in letzter Zeit immer mehr Schulen die 1:1-Ausstattung (=allen jungen Menschen ein digitales Gerät) einführen. KI wird dadurch als Scheinlösung für die Probleme der Individualisierung „natürlich“ auf dem Präsentierteller dargeboten. Sowohl die 1:1-Ausstattung als auch KI werden von vielen als alternativlos für Schulen geframt. So darf zum Beispiel Prof. Jan Boelmann von der PH Freiburg behaupten:
Was wir sehen werden, dass sich innerhalb der nächsten Jahre dieses Feld der künstlichen Intelligenzen auf alle Lebensbereiche massiv ausbreiten wird. Dagegen wird die Einführung des Smartphones im Jahr 2007 wie ein kleiner Schritt in der Technologiegeschichte wirken.
Jan Boelmann
Ist das so? Wieso übernehmen auch Professoren dieses Narrativ so mechanisch? Boelmann meint im DLF-Interview zu persönlichen KI-Assistenten im Klassenraum weiter: „Das Potential bietet KI, und zwar auf eine ganz wunderbare Art und Weise.“ Auf ähnliche Weise beeinflussen auch Personen wie die Professorin für Wirtschaftsinformatik Doris Weßels politische Entscheidungen wenn sie Narrative benutzt, dass die KI-Entwicklung an Schulen und Hochschulen unausweichlich sei. Sie behauptet:
„Die Lebenswirklichkeit ist einfach so.“
„Europa darf nicht den Anschluss verpassen.“
„Wir brauchen ein KI-Bootcamp mit Schlagkraft.“
Doris Weßels
Bei mir entstehen nicht zuletzt durch solche kritiklosen Visionen in Verbindung mit Augmented-Reality-Brillen im Unterricht düstere Bilder im Kopf.
Nichts, absolut nichts ist alternativlos
Zum Glück hält in dem gleichen Deutschlandfunk-Beitrag Jürgen Geuter alias Tante dagegen, wie sehr KI Ungleichheiten noch mehr verstärken wird. Tante hat auf der re:publica vor ein paar Tagen einen sehr sehenswerten, wie gewohnt kritischen Vortrag zum Hype rund um KI gehalten.
Die wichtigen Punkte aus seinem Vortrag im Hinblick auf Schule sind für mich:
- Hinterfragt T.I.N.A. = „There is no alternative“
- Hinterfragt, dass Effizienz über alles gestellt wird
- Hinterfragt, ob KI uns produktiver macht
Er fordert weiter:
An anderer Stelle fragt Neil Selwyn, ob wir anstatt 1:1-Ausstattungen im Ed-Tech-Bereich nicht über „Digital degrowth“ nachdenken sollten. Er argumentiert im Sinne von „low-impact, equitable lines“ und stellt damit letztlich Entscheidungen wie den Digitalpakt ganz grundsätzlich in Frage.
Wollen wir das?
Solche kritischen Beiträge braucht es mehr. Bitte lasst uns jetzt diese Fragen stellen:
- Wollen wir als Lehrkraft so viele junge Menschen pro Woche im Unterricht sehen, womit individuelle Beratung und die Individualisierung des Unterrichts schwierig bis unmöglich werden?
- Wollen wir, dass wir jungen Menschen nur gelegentlich individuell helfen können?
- Wollen wir, dass wir sie so selten als Individuum wahrnehmen, ihre persönliche Hintergründe kennen und berücksichtigen können?
- Wollen wir 1:1-Ausstattung in Klassenzimmern?
- Wollen wir KI ins Klassenzimmer lassen, die die Individualisierung technisch aufrecht erhalten kann, in der Hoffnung, dass junge Menschen auf diesem Wege mündig und sozial kompetent werden?
- Wollen wir KI ins Klassenzimmer lassen, weil sich so der Lehrkräftemangel technisch auffangen ließe?
Dahinter müssen für mich im Schulkontext diese Fragen stehen: Welche Individualisierung wollen wir und wie müsste eine Schule aussehen, in der sich echte menschliche Individualisierung realisieren ließe? Wie stärken wir Gemeinschaft und Solidarität statt Vereinzelung?